Home » Neues aus Wuppertal Barmen » Was wollen die Bürger wirklich? – Bürgerhaushalt per Internet ist ein Instrument für „Zeitreiche“

Was wollen die Bürger wirklich? – Bürgerhaushalt per Internet ist ein Instrument für „Zeitreiche“

(kgc). Es gibt Politiker, Beamte (in der Stadtverwaltung sind es längst mehr Angestellte) und Bürger. Obwohl: eigentlich sind alle Menschen. Doch weil das Vertrauen der Bürger in die Politik und öffentliche Hand („die Verwaltung ist nicht neutral, sondern wird von Interessengruppe geleitet“) tief erschüttert ist, wird der Ruf nach Bürgerhaushalten immer lauter. Die Städte reagieren unterschiedlich. Manche Verwaltungen fragen die Meinungen der Internetnutzer konkret ab, die Stadt Wuppertal spricht eher von einem Beratungsinstrument, ohne Rechte und Pflichten.

In Wuppertal hat sich ein Kompetenznetz Bürgerhaushalt gebildet, das sich auch als Ideenwerkstatt Wuppertal bezeichnet und von Dieter Hofmann geleitet wird. Die Gruppe reagierte erfreut, dass die Stadt Wuppertal ihre Bürger stärker an der Aufstellung des nächsten kommunalen Doppelhaushaltes beteiligen will. In einer Podiumsdiskussion in der Oberbarmer Färberei stellte Klaus-Jürgen Reese, SPD-Ratsfraktionschef und Vorsitzender des Finanzausschusses, klar, dass sich die Politik die Entscheidungskompetenz vorbehält, weil die Ratsmehrheit auch die Verantwortung gegenüber in Wählern trägt. Dennoch ist die Meinung des Volkes gefragt und der Stadtrat will ausdrücklich die Kompetenz der Bürger- und Bezirksvereine in den Abwägeprozess einfließen lassen. Doch diesen Ball will Professor Dr. Wolfgang Baumann, Vorsitzender des Stadtverbandes der Bürger- und Bezirksvereine, nicht einfach auffangen: „Unsere Vereine sind zwar mit den Bezirksvertretungen im ständigen Dialog, doch liegt die Verantwortung bei den gewählten Vertretern. Voraussetzung für bürgerschaftliche Mitwirkung ist eine bedarfsgerechte Finanzausstattung der Kommunen durch Bund und Land.
Davon kann angesichts des hohen Schuldenberges keine Rede sein.“ In diesem Zusammenhang zeigen sich Wuppertals Stadtkämmerer Alfred Lobers und der Bonner Bundestagsabgeordnete Dr. Stephan Eisel unversöhnlich.
Während der Eine ein ständiges Greifen in die Stadtkasse für neue Leistungen beklagt, wünscht der Andere dieses Sandkastenspiel nicht. Dabei ist die Ausgangslage prekär: zwei Milliarden Euro Altschulden, die frühestens ab 2020 abgetragen werden können, und jährlicher  Ausgabenüberschuss von weit über 100 Millionen Euro, für den gesetzwidrige Kassenkredite aufgenommen werden. Wenn das Land nach gegenwärtiger Planung zwischen 50 und 60 Millionen Euro an die Wupper überweist und der Stadtrat in einem zweiten Sparpaket rund 50 Millionen Euro einspart, soll ein Haushaltsausgleich bis 2016 möglich werden.
In einer Nothaushaltskommune – Wuppertal lebt seit 20 Jahren mit Haushaltssicherungskonzepten – ist kein Geld zu verteilen. Eine Streichliste regiert Verwaltung und Politik. Deshalb stößt eine Bürgerbeteiligung an enge Grenzen. „Es gibt sie schon lange“, weiß Alfred Lobers, rechte Hand von Dr. Johannes Slawig. Und weiter: „Anregungen haben wir stets an die Politik weitergeleitet.“ Konkret nach ihrer Beteiligungsform gefragt, sprechen Bürger zwar von Transparenz, antworten aber auch bedenklich. Einer will Straßenschäden durch Mitbürger beheben lassen, um Kosten zu sparen. Der Verzicht auf den Neubau des Döppersbergs ist ein weiterer Vorschlag. Ein dritter spricht für die bürgerschaftliche Pflege von Spielplätzen. Doch derartige Patenschaftsmöglichkeiten gibt es längst und sie werden nur wenig genutzt. Stattdessen reinigen Bürger in Sportvereinen Sportplätze und Turnhallen und betreiben Stadtbäder in Ronsdorf und Vohwinkel.
Für den „Bürgerhaushalt“ spielt das Internet eine wichtige Rolle. Nach Beobachtung von Dr. Stephan Eisel ist online nur Zweidrittel der Bevölkerung erreichbar. Nur zwei Prozent kommen für Online-Abstimmungen in Frage. Da ist er sich mit Klaus-Jürgen Reese und Alfred Lobers einig, dass von einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung keine Rede sein kann. Das gilt auch für Bürger- und Parteiveranstaltungen. Dr. Eisel spricht gegen eine Bringschuld der Verantwortlichen und für eine Holschuld der Bürger. Er hält den Austausch von Argumenten für unverzichtbar und empfiehlt dazu das Organisieren von Foren. Dazu ist das Kompetenznetz Bürgerhaushalt bereit.
Koordinator Dieter Hofmann muntert zu einem Blick in die Website auf: www.buergerhaushalt-wuppertal.de.

Eine Meinung – Meine Meinung
Wahl zwischen Pest und Cholera macht selten Spass Klaus-Günther Conrads über Wahlauftrag und Bürgerhaushalt Die Wahlbeteiligung ist über Jahrzehnte stetig gesunken. Bei Kommunalwahlen üben sich Wahlberechtigte noch mehr in Enthaltsamkeit, als bei Bundestags- und  Landtagswahlen. Deshalb sind viele Bürgerinnen und Bürger der Meinung, dass diese Form der Mitbestimmung nicht funktioniert und die Ergebnisse längst nicht mehr repräsentativ sind.
Dennoch sind über 90 Prozent vor wenigen Jahren befragter Menschen im Lande davon überzeugt, dass freie, geheime Wahlen alternativlos sind.
Wenn dem so ist, müsste sofort ein Run in die Parteien einsetzen, durch den die bisherigen Funktionsträger förmlich aufgemischt werden. Das ist ja eigentlich das Ziel mitbestimmungsbereiter Menschen, die sich Entscheidungen, Verhalten und Begründungen auf den verschiedenen Ebenen nicht länger anhören wollen. Im Übrigen sind die Parteien aufnahmefähig, weil es vor Ort oft nur kleine Zirkel gibt, in denen kaum noch  Diskussionen um die Probleme im Umfeld stattfinden.
Diskussionskultur und Abwägeprozesse sind in Bezug auf Bürgerhaushalte wichtige Stichworte. Einsam am Computer sitzen, Überschriften und Kurzsätze zu lesen, danach Zustimmung und Ablehnung entsprechend ankreuzen – und schon setzt die Verwaltung um. So einfach geht es nicht! Vor allem nicht ohne den Austausch von Argumenten und die Suche nach Mehrheiten. Wer wirklich am Stadthaushalt mitwirken will, muss buchstäblich vom Sofa runter kommen und sich mit Mitbürgern, vor allem Verwaltungsleuten, die über Fachkenntnisse verfügen, treffen und streiten. Streit über Pflichtleistungen erübrigt sich. Brüsseler, Berliner und Düsseldorfer Gesetze müssen umgesetzt werden, natürlich aus dem Wuppertaler Haushalt bezahlt. In so genannten Freiwilligen Leistungen steckt der Teufel. Soll Geld von Vohwinkel nach Oberbarmen umgeleitet werden, weil dort die Armut größer ist? Beide Stadtteile haben gute Argumente auf ihrer Seite. Warum soll ein zweiter Baumarkt auf Lichtscheid richtig sein? Dürfen in Nächstebreck Schwedenmöbel Fertighäuser vertreiben? Welche Straße wird erneuert oder nur geflickt? Wer entscheidet zwischen Einrichtungen für Jugendliche und Senioren – oder eben dagegen?
Politik gibt Aufträge in die Verwaltung und lässt Entscheidungsvorlagen anfertigen. Über diese durchaus lesbaren und detailreichen Drucksachen wird parlamentarisch diskutiert und entschieden. Denn die Politiker müssen bei der nächsten Wahl dafür die Verantwortung übernehmen. Ohne Verantwortung entscheiden zu wollen, geht nicht. Und Meinungsforscher Dr. Stephan Eisel hat sicher Recht, wenn er feststellt, dass bürgerschaftlicher Einfluss zwar ganz schön ist, sich viele Menschen den riesigen Zeitaufwand für Lesen,
Diskussion und Meinungsbildung nicht leisten wollen. Per Wahl vergeben sie dann Pauschalaufträge an die Politik – und kritisieren anschließend fleißig und heftig.