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Hermann Enters

Klaus Goebel
Hermann Enters, der Arbeiter, der Sozialgeschichte schrieb
Einführung in die Erinnerungen von Hermann Enters
(zur 5. Auflage, Wuppertal 2002)

Von Hermann Enters liegen weitere, ungedruckte Erinnerungen vor, die er schrieb, als er das erste Manuskript nach Deutschland geschickt hatte.

Hermann Enters wurde am 2. August 1846 morgens 7.30 Uhr in Unterbarmen, Haus 1161, Sektion A der Stadt Barmen geboren. Nach der 1861 erfolgten Einführung von Straßenbezeichnungen wurde daraus das Haus Wiesenstr. 8 (heute Wittensteinstraße). Hauseigentümer war Georg Pfarr, dem auch die Häuser Wiesenstr. 10 und 14 gehörten.
Der Vater Carl Wilhelm Hermann Enters (1824-1898) stammte aus Barmen. Dessen Eltern, der Färberknecht Diedrich Georg Enters (damals Enter geschrieben, geb. 1796 Wengern an der Ruhr), und Johanna Maria Bonsiep (1798-1839) vom Loh in Unterbarmen, hatten 1822 in Barmen geheiratet. Hermanns Mutter war Wilhelmine geb. Mengel (1827-1918). Deren Eltern waren der Fabrikarbeiter und spätere Fettwaren- und Taubenhändler Johann Mengel („Duwenmengel“) und seine Frau Johanna Maria geb. Halbach in Barmen.
Hermanns Eltern waren am 28.Mai 1846, 4 Uhr nachmittags in der vereinigt-evangelischen Gemeinde Unterbarmen getraut und um 5 Uhr in das Heiratsregister der Stadt Barmen eingetragen worden. Neun Wochen später kam Hermann auf die Welt. In den nächsten 23 Jahren wurden dem Ehepaar weitere acht Kinder geboren:

2. Emma (1.10.1848-18.4.1939)
Sekt. A, Haus Nr. 1150, Auer Str. 16, heute Heinkelstr. 10

3. August (geb. 2.2.1851)
Sektion A (ohne nähere Angaben)

4. Bertha (geb. 1.6.1855)
Sekt. A, Nr. 1241, Bezirk Springen 6 (Eigentümer: Ferdinand Cleff)
5. Wilhelm (geb. 29.11.1857)
Sekt. A, Nr.1200, Bezirk Aue 15, Böckmannsbusch

6. Otto (20.4.1860-1929)
Sekt. A, Nr.1200, Bezirk Aue 15, Böckmannsbusch

7. Hugo (21.4.1863-1935)
Böckmannsbusch 15

8. Ida (10.1.1866-1957)
Haspeler Schulstr. 2a

9. Ernst (geb 9.10.1869)
Bendahler Str. 2

Innerhalb Unterbarmens zog die Familie mehrfach um. Die Wohnungen waren für den schwindsüchtigen Geldbeutel entweder zu teuer, für die Arbeit am Webstuhl zu dunkel oder für die wachsende Familie zu klein. Umzugstermin war gewöhnlich der 1. Mai, von dem es im Wuppertal hieß: Der Mai ist gekommen, die Leute ziehen aus, da fliegen die Brocken zum Fenster hinaus. Der heranwachsende Hermann lernte durch den Wohnungswechsel die Gegend zwischen Kothen, Aue, Haspel und Bendahl daher „wie seine Westentasche“ kennen, ebenso die Kluse auf benachbartem Elberfelder Boden.

Elendes Leben

Vater Enters war 22 Jahre alt, als sein Ältester geboren wurde. Er webte am eigenen Webstuhl Band im Lohn für Verleger. Von ihren Aufträgen, dem von ihnen gelieferten Rohmaterial und ihren Zahlungen war er abhängig. Als Eigentümer eines einzigen Webstuhls lebte ein Bandwirker und Weber gewöhnlich an der unteren Grenze des Existenzminimums. Denn er verdiente „nicht mehr als ein Fabrikarbeiter. Dazu ist die Gefahr der Arbeitslosigkeit relativ viel größer als beim Fabrikarbeiter, und jede ungünstige Konjunktur trifft zunächst ihn“, schrieb Johann Victor Bredt über diese Heimarbeiter.
Die Abhängigkeit von wirtschaftlichen Konjunkturen, Wirtschafts- und Zollpolitik, Kriegen und politischen Krisen, Naturkatastrophen und wechselnden Moden hat das Textilgewerbe immer nachhaltig bestimmt. Am Beispiel der Familie Enters wird das Auf und Ab in der Auftragslage, das auch den Verleger und Fabrikanten nicht verschont, augenfällig. Hatte Enters wenig zu tun, war Schmalhans Küchenmeister. Mann und Frau verfolgten daher eifrig die öffentlichen Bekanntmachungen über den Brotpreis. Wenn das Geld besonders knapp war, suchte die Mutter, die beim Spulen ohnehin mitarbeitete, Nebenbeschäftigungen außerhalb des Hauses. Die kleineren Kinder blieben dann der Aufsicht des Vaters und ihrer größeren Geschwister überlassen. Der Vater griff mit Ungeschick und brutaler Härte in die Erziehung ein. Dem Sohn schien er manchmal verstockt. Der häuslichen Wirklichkeit, die den Alten bedrohte und die sich nicht ändern ließ, suchte er sich durch die Jagd auf Singvögel zu entziehen. Jürgen Reulecke erscheint er als die „eigentlich tragische Figur“. Er habe darum gekämpft, den alten Lebensstil aufrechtzuerhalten. Seine „Ausbruchversuche“, wozu der Vogelfang zählte, seien Ausdruck eines verzweifelten Bemühens gewesen, sich auch unter geänderten Verhältnissen selbst zu bestimmen. Damit repräsentierte er die Epoche des Umbruchs von der Vor- zur Frühindustrialisierung.
Mit Kindern, Kochen, Waschen, Nähen, Putzen, mit ihrer Handlangerarbeit für den Bandstuhl, mit dem Antreiben des Mannes und gelegentlichen Arbeiten, um hinzuzuverdienen, war die tapfere Mutter gewiß überfordert. Doch sie hielt in diesem Pflichtenkreis die Familie zusammen. Wie der Vater, so wußte auch sie sich im Umgang mit den Kindern meist nur durch Schimpfen und nicht selten durch kräftige Schläge zu helfen. Wenn es zu bestimmten Zeiten an Bargeld fehlte, um Brot und Kartoffeln für die nächsten Mahlzeiten zu beschaffen, konnte sie hoffen, daß das eine oder andere der Kinder bei den in der Nähe wohnenden Großeltern oder, allerdings seltener, bei Onkel und Tante satt würde.
Die Arbeitsbedingungen im frühindustrialisierten Gewerbe von Barmen und Elberfeld sind mehrfach zum Gegenstand eingehender Untersuchungen gemacht worden. Erschütternde Schattenseiten werden sichtbar: niedrige und ungerechte Löhne, gesundheitsschädigende Arbeit und Arbeitsplatzverhältnisse mit Krankheits- und Invaliditätsfolgen, Arbeitszeiten vom frühen Morgen bis in die späte Nacht, Sonntagsarbeit, Massenentlassungen bei schwächer werdender Konjunktur bis hin zu zeitweiliger und dauernder Arbeitslosigkeit, Frauenarbeit trotz familiärer Beanspruchung dieser Frauen, erschreckende Kinderarbeit und unregelmäßige Schulbesuche, beengte Wohnungen bei oft unglaublichen hygienischen Verhältnissen, familienzerrüttender Alkoholismus der Männer, mangelhafte Nahrungsmittelversorgung, begleitet von Unterernährung, Mangelkrankheiten, erhöhter Krankheitsanfälligkeit, schlechter ärztlicher Versorgung und vorzeitigem Sterben.
1842 berichtete die Handelskammer Elberfeld-Barmen dem preußischen Finanzministerium in Berlin auf Anfrage, für 16 000 Bandwirker ergebe sich ein Gesamtwochenlohn von 25 000 Talern. Der niedrige Satz pro Arbeiter wurde damit erklärt, „dass durch Spulen und Kettenscheren so viele Kinder und alte Leute“ beschäftigt würden. Der von Moses Heß herausgegebene „Gesellschaftsspiegel“ nannte für 1844 und 1845 einen Wochenverdienst von zwei Talern pro Bandstuhl. Die Depressionserscheinungen in der Wuppertaler Wirtschaft steuerten in den Jahren 1845 bis 1848 einem Höhepunkt entgegen. Infolge Winterkälte, Frühjahrsüberschwemmungen und Missernten erfolgten Preissteigerungen. Die Kaufkraft sank rapide. Der Textilgüterverbrauch ging erheblich zurück. Die Barmer Industrie stand vor ihrem Zusammenbruch. Die durch den Zollverein verfügte Erhöhung der Importzölle auf Rohmaterial anstatt auf Fertigwaren lief darum den Wuppertaler Interessen zuwider. Innenminister von Bodelschwingh empfahl den Wortführern Wuppertaler Protestes damals, die Preiserhöhung durch Lohneinsparungen auszugleichen.

Antworten auf die Soziale Frage

Wenn auch die schlimmsten Notzeiten nicht anhielten, so war eine generelle Verbesserung der elenden Zustände in den Arbeiterfamilien nicht abzusehen. Durch Maßnahmen freiwilliger christlicher Barmherzigkeit, wie sie etwa von Johann Caspar Engels und später von seinem Sohn Friedrich Engels sen. ausgingen, ließen sich zwar Wunden verbinden, aber keine Heilungsprozesse für den ganzen Körper einleiten. Die Zahl gebefreudiger Besitzbürger mit patriarchalischem Verantwortungsbewusstsein und dem Einkommen einsamer Steuerzahler in der ersten Klasse nach dem Dreiklassenwahlrecht stand in Elberfeld und Barmen in keinem Verhältnis zur wirklichen Not wachsender Massen armer Leute und ihrer Bedürftigkeit. Mit entscheidend war, dass die Besitzer von Vermögen und Ämtern nicht zugeben wollten oder konnten, dass die Besserung der Zustände einen grundlegenden Wandel der bestehenden Ordnung erfordere.
Zu den frühesten, heftigsten und in ihrer Polemik nicht selten übers Ziel hinausschießenden Kritikern zählte ein Sohn und Enkel der genannten Engels: Friedrich jun., der als 18jähriger kaufmännischer Lehrling mit seinen unter Pseudonym publizierten „Briefen aus dem Wupperthal“ gleichsam eine Bombe zur Explosion brachte. Auch andere zeitkritische Schriften wären ohne Kenntnis der Wuppertaler Verhältnisse kaum denkbar gewesen, so von Autoren wie Harkort und Diesterweg. In welcher Weise sich die evangelischen Gemeinden den Problemen stellen, haben Friedrich Wilhelm Krummacher (1935) und Herwart Vorländer klargemacht. Einerseits war die sarkastische Bemerkung zu hören, Elberfeld-Barmen habe über einer eifrig betriebenen Heidenmission das Nächstliegende vernachlässigt, das Elend unter der eigenen Bevölkerung nämlich zu beseitigen. Andererseits trat einer der Direktoren (damals Inspektoren) der gleichen Rheinischen Missionsgesellschaft, der bedeutende Friedrich Fabri, mit einer einfallsreichen Denkschrift zur Lösung der Wohnungsfrage hervor.
Als Kritiker beinahe unbekannt geblieben ist der Wupperfelder Hauptlehrer Friedrich Wilhelm Dörpfeld, der sich als Pädagoge einen Namen machte. 1867 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Dr. German die Schrift „Die soziale Frage“. Sie endet mit dem Satz: ’Genossenschaftlichkeit, soziale Brüderlichkeit – das ist, soweit uns zu sehen gegeben, das Ende der Wege Gottes in der sozialen Frage. Wann werden wir dahin gelangen?’. Viele Jahre später erhielt Dörpfeld ein Exemplar seiner Schrift aus der Schweiz mitgebracht, ohne daß dem Überbringer die Verfasserschaft des Empfängers bekannt gewesen wäre.
Dörpfeld knüpfte in einem wohl 1886 verfassten Brief daran an: „Im Jahre 1866 schrieb ein rheinischer Schulmann eine Schrift über die soziale Frage. Weder die Fortschrittspartei noch die Konservativen bekümmerten sich um die Lage des unselbständigen Arbeiterstandes, sondern bemühten sich bloß, ihn als Stimmvieh für ihre Parteizwecke zu erwerben. Die einen mit liberalen Phrasen, die anderen mit christlichen […] Da trat Lassalle auf und erschien auch im Wupperthale. Nun litt es mich nicht länger; ich sah deutlich, was kommen würde. Mein Gewissen wollte entlastet werden, und so kam die oben genannte Schrift zustande. Sie erschien pseudonym, denn ihre positiven Vorschläge waren den Liberalen ein Ärgernis und den Konservativen eine Torheit“. Das bei Dörpfeld durchscheinende Konzept Johann Hinrich Wicherns und der Inneren Mission, die Stände auf der Grundlage der bestehenden Ordnung zu solidarisieren, gehörte bewußt oder unbewußt zur weit verbreiteten Auffassung evangelischer Kreise des Tals, die nach einer Antwort auf die drängenden Probleme suchten. Doch ein sozialer Protestantismus im Sinne von Wichern oder von Theodor Fliedner löste die soziale Frage ebenso wenig wie die katholische Reformbewegung, für die Wilhelm Emanuel von Ketteler stand. Zu stark widerstrebten diesen Konzepten politischer und sozialer Veränderung die tonangebenden Mächte in Staat und Gesellschaft. Wenn der fortschrittliche Elberfelder Unternehmer Abraham Frowein (1847-1893) Gottlosigkeit als tiefste Ursache für die Krise verantwortlich machte, mußte dieser Vorwurf alle gesellschaftlichen Kräfte gleichermaßen treffen, unausgesprochen auch die Angehörigen seiner eigenen Schicht, diejenigen also, die sich als Christen den auf der Schattenseite des Lebens stehenden Menschen verweigerten.
Trotz allen Elends hören wir in der Familie Enters nichts von der Anleitung zum Stehlen oder zum Betrügen. Auch das Betteln auf der Straße ist kein Thema. Die Zehn Gebote, seit der Kinderlehre – dem Konfirmandenunterricht – allen vertraut, blieben in Geltung. Vom Gebet ist im Brief von Enters die Rede und davon, dass man den Sonntagsgottesdienst in der Hauptkirche besucht hätte, hätte man nur sonntägliche Kleidung anzuziehen gehabt.
Es dürfte aber auch nicht selten am Sonntag gearbeitet worden sein, um die Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Die Kinder mussten am Bandstuhl mithelfen. Die Erinnerung von Hermann Enters, schon mit vier Jahren auf das Spulrad gesetzt zu werden oder auf ein Baby aufzupassen, ist eine der seltenen Dokumentationen von Kinderarbeit schon im Vorschulalter. Auch als Schulkind musste er, sobald er aus der Schule zurück war, „jede freie Minute auf dem Spulrad sitzen“. Dass es unendlich vielen Kindern ähnlich erging, vermögen wir nur zu ahnen, ohne es genau zu wissen. Die gesetzliche Regelung der Kinderarbeit, wie sie durch die beiden Regulative von 1839 und 1853 in Preußen erfolgt war, konnte nur die Fabriken betreffen. Gewerbliche Heimarbeit und Landwirtschaft ließen sich nicht in gleichem Maße kontrollieren.

Anfänge des Sozialismus

Dass sich Fabrik- und Heimatarbeiter, die wie Enters und seinesgleichen auf der Schattenseite des Lebens standen, in den 1860er Jahren zu den Ideen und Parolen der neu entstehenden sozialistischen Bewegung hinzogen fühlten, konnte darum nicht verwundern.
Die Agitation, die Moses Heß und Friedrich Engels 1845 in Elberfeld entfacht hatten, blieb blass und ohne Sprengkraft. Diese Art Sozialismus war „eine Angelegenheit von Intellektuellen“ geblieben, bei der „die Betroffenen“ – die Arbeiter nämlich – „so gut wie nicht aktiv geworden“ waren. Der preußische Kultusminister Eichhorn glaubte anläßlich dieser Elberfelder Versammlungen im Februar 1845 sagen zu können, der in der so genannten wissenschaftlichen Kritik begründete Hochmut gewisser Literaten nehme ihnen in der Regel die Fähigkeit, auf die ungebildete Masse einzuwirken. Wilhelm Treue erklärte sogar, dass das Kommunistische Manifest „vom Arbeiter jener Zeit weder gelesen noch in seiner schwierigen Sprache ohne Interpretation verstanden werden konnte und auch nicht die viel engeren Forderungen der Notleidenden und Unzufriedenen ausdrückte“. Der konservative Politiker August von der Heydt, preußischer Handels- und Finanzminister und ein intimer Kenner der Wuppertaler Verhältnisse, führte 1865 vor dem Haus der Abgeordneten in Berlin aus: „Es wird nun hingewiesen auf das Drängen des Arbeiterstandes auf Erlangen des unbeschränkten Koalitionsrechtes, ein Drängen, eine Aufregung, deren Existenz ich anerkennen muss. Aber ist denn dieses Drängen aus dem Arbeiterstand selbst hervorgegangen? Theoretiker von verschiedenem Lebensberuf, von denen aber keiner dem Arbeiterstande angehört, haben diese Aufregung erst hervorgerufen“.
Doch diese Theorien sollten bald in praktische Politik umsetzen. Denn als einer dieser „Theoretiker“, der bei Dörpfeld zitierte Ferdinand Lassalle, im Tal auftrat, war von einem „neuen Christus“ (Enters) die Rede; sein Nachfolger als Parteivorsitzender, Jean Baptist von Schweitzer, galt als „Abgott der Wuppertaler Arbeiter“. Es bleibt bemerkenswert, was Enters zu dem Versuch des im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein organisierten Vaters sagt, ihn, den damals 18jährigen, zur Teilnahme an Parteiversammlungen zu bewegen: „Ich hatte bis dahin noch nichts anderes gehört als Gott und den König und die Regierung preisen und loben, dass das Richtige und Beste für die Menschen wäre. Ich fand aber heraus, dass die Sozialisten daran rütteln wollten, und das war mir zuwider.“
Lassalles Auftreten in Ronsdorf war ein denkwürdiges Ereignis der politischen Geschichte der Wupperstädte und der deutschen Arbeiterbewegung. Der Arbeiterführer sprach anlässlich des ersten Stiftungsfestes, das der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein in Ronsdorf, einem Zentrum der neuen Partei, am 22. Mai 1864 abhielt. Die größten Ortsverbände besaßen in diesem Jahr Barmen mit 529 und Ronsdorf mit 523 Mitgliedern, während die Gesamtzahl der Mitglieder in Deutschland 4600 betrug. Die Rede, deren Gedanken Lassalle auf seiner Veranstaltungsreise im Mai jenen Jahres auch anderswo zum Ausdruck brachte, wurde bald als „Ronsdorfer Rede“ bekannt. Seine „demagogische Redeleistung“ bestand darin, das geringe politische Ergebnis der bisherigen Bemühungen durch außerordentliche Worte auszugleichen. Nur wenige Monate später, am 31. August, starb er bei einem Duell.
Lassalles Arbeiterverein gewann im Reichstagswahlkreis Elberfeld-Barmen zusehends an Boden, als nach Einführung entsprechender Wahlbestimmungen für den Norddeutschen und anschließend für den Deutschen Reichstag auch Arbeiter wählen und kandidieren konnten. Im September 1867 setzte sich bei den Wahlen zum Norddeutschen Reichstag in einer Stichwahl Lassalles Nachfolger Jean Baptist von Schweitzer durch. Auch nach Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Bebels und Liebknechts (1869) konnten die Lassalleaner ihren Einfluss im Tal erhalten. Nachdem beide Parteien 1875 vereinigt worden waren, setzte sich dieser politische Kurs im Wuppertal fort, weil sich hier parteipolitisch wie gewerkschaftlich eine eher gemäßigte Richtung in der Tradition Lassalles durchsetzte.

Auswanderung nach Nordamerika


Hermann und Auguste Enters geb. Leckebusch wurden am 31. März 1870 in Barmen getraut. Auguste, geb. am 7.2.1848 in Barmen als Tochter der seit 1939 in Barmen verheirateten Eheleute Peter Caspar Leckebusch, Färber (Herzkamp nördlich von Barmen 1809 – Barmen 1874), und Friederika geb. Limberg (Hardenberg nördlich von Elberfeld 1817 – Barmen 1900). 1882 wanderten Hermann und Auguste in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. In Milwaukee fanden sie mit ihren in Barmen geborenen sechs Kindern, zu denen in Nordamerika vier Kinder hinzutraten, eine neue Heimat.
Enters gehörte mit seiner Familie damit zur „letzten großen Auswanderungswelle“ in Deutschland, die zwischen 1880 und 1893 die Vereinigten Staaten zum Ziel hatte. Insgesamt waren im Zeitraum 1820-1930 rund 5,9 Millionen Deutsche in die USA eingewandert. Bei dieser letzten Welle hatte sich der Anteil aus dem städtisch-industriellen Bereich deutlich erhöht. Die Enters zählen dazu. Die Vorgeschichte der Familie in Barmen und der weitere Weg lassen sie als anschauliches Beispiel für das Schicksal von Millionen ihrer Landsleute schildern. Keine Abenteuerlust hatte die Auswanderer aus den Städten und vom Land fortgetrieben, schrieb Wilhelm Raabe in seinem ersten Roman. „Not, Elend und Druck sind´s, welche jetzt das Volk geißeln, dass es mit blutendem Herzen die Heimat verläßt“.
Hermann Enters starb am 25. Juli 1940 in Milwaukee, wenige Tage vor Vollendung seines 94. Lebensjahres. Seine Frau Auguste war ihm im Herbst 1924 im Tode vorausgegangen. Sie stand im 77. Lebensjahr. Als Hermann starb, lebten noch acht Kinder, denen sich zu seinen Lebzeiten 32 Enkel und 32 Urenkel zugesellt hatten.
Er hatte sein Schreiben im Alter von 76 Jahren an die in Deutschland lebenden Geschwister gerichtet, um „Vorurteile“ aus der Welt zu schaffen, wie er eingangs bemerkt. Der Brief wurde am 6. April 1922 in Milwaukee von dem Sohn Paul Enters zur Post gegeben und traf am 22. April bei Enters‘ Schwester Emma Röth geb. Enters in Barmen ein. Später ging er in den Besitz von Marie Ströker geb. Kottmann in Haßlinghausen über. Deren Mutter Lisette Kottmann geb. Leckebusch war eine Schwester von Enters Ehefrau Auguste.

Wie der Brief in Wuppertal wiederentdeckt und veröffentlicht wurde

Anfang 1969 erschien auf der Wuppertaler Lokalseite des evangelischen Sonntagsblattes „Der Weg“ eine kurze Würdigung des erwähnten Dr. Abraham Frowein anlässlich der 75. Wiederkehr seines Todestages. Frowein, Fabrikant und freikonservativer Politiker, hatte sich als Kirchmeister große Verdienste um die evangelisch-reformierte Gemeinde Elberfeld, besonders um die Errichtung der Friedhofskirche, erworben. Die Leserin Herta Denzel sah sich nach der Lektüre des genannten Artikels veranlasst, in einem Brief an die Redaktion das „Versagen vieler Christen angesichts der entsetzlichen Folgen der Industrialisierung, die in Wuppertal am schlimmsten waren“, hervorzuheben. Ihr Brief schloss: „Meines Erachtens gehört schon allerlei Hartherzigkeit dazu, in der damaligen Notzeit noch Geld für eine Kirche auszugeben. Hätte man dieses Geld für die Not der Menschen verwandt, wären vielleicht heute die Kirchen nicht so leer. Ihr Artikel sieht so freundlich aus und wird leider wohl auch von Menschen so angesehen, die den wahren, schrecklichen Hintergrund nicht kennen. Aber die Wahrheit ist in Ihrem Bericht nicht enthalten. Verzeihen Sie mir bitte meine Offenheit“. In diesem Zusammenhang wies Frau Denzel auf ein Briefmanuskript hin, das als Gegenstück zu dem erwähnten Zeitungsartikel anzusehen sei. In der Wuppertaler Gruppe des aus der Wandervogelbewegung hervorgegangenen Freideutschen Kreises war aus dieser Handschrift bereits mehrfach vorgelesen worden.
Wir sprachen Frau Ströker damals an, und sie stellte uns den Brief zur Verfügung. Schon die erste Durchsicht ließ ein einmaliges Dokument erkennen. Es erschien darum als Pflicht, diese seltenen Erinnerungen aus Arbeiterhand der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Ehepaar Marie und Albrecht Ströker erlaubte gern eine Veröffentlichung.
In einem Arbeitskreis für stadtgeschichtliche Forschung, der eine Reihe von Jahren auf Anregung von Berufsschuldirektor Georg Gustav Löns im damaligen Verein für Kunst und Gewerbe, Wupperfeld, zusammenkam, wurde die Drucklegung vorbereitet. Günther Voigt stellte eine Abschrift her. Er berücksichtigte für die Veröffentlichung folgende Veränderungen des Manuskriptes:
1. Satzstellung, Rechtschreibung und Zeichensetzung werden den heutigen
Regeln angepasst.
2. Durch Absätze werden Sinnzusammenhänge hergestellt.
3. Zwischenüberschriften werden eingefügt, um die Übersicht über den
Inhalt zu erleichtern.
4. Auffällig oft sich wiederholende Wörter, Ausdrücke und Begebenheiten
innerhalb eines Satzes oder in aufeinanderfolgenden Sätzen fallen weg.

Die 1. Auflage erschien 1970. Dem Arbeitskreis erschien das Zusammentreffen mit der 150. Wiederkehr des Geburtstages von Friedrich Engels nicht zufällig. Hatte doch hier ein Arbeiter die proletarischen Lebensverhältnisse Barmens geschildert, die der in Enters‘ Nachbarschaft eine Generation früher aufgewachsene Engels gekannt und in den „Briefen aus dem Wupperthal“ angedeutet hatte. Die 2. Auflage der Enters-Erinnerungen folgte schon 1971. Als Ende der siebziger Jahre diese Auflage vergriffen war, regten der Herausgeber der „Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde des Wuppertals“, Dr. Michael Metschies, sowie Stadtarchivdirektor Dr. Hartmut Sander an, die genannten Festlegungen des Arbeitskreises zu überprüfen und anhand der Handschrift gegebenenfalls zu korrigieren sowie Druckfehler zu beseitigen. Für die neue Auflage vereinbarten Herausgeber und Mitarbeiter folgende Richtlinien:
1. Der Satzbau des Originals wird wiederhergestellt, soweit er für die erste
und zweite Auflage verändert worden war.
2. Die Auflösung von Abkürzungen (beispielweise „u.“ für „und“) bleibt
erhalten.
3. Die Einteilung in Abschnitte und die Hinzufügung übergreifender
Zwischentitel bleibt erhalten.
4. Abweichungen von der heutigen Grammatik werden mit Ausnahme des
falschen Gebrauchs von Fällen (mir – mich; die – der usw.) in der
Originalschreibweise wiedergegeben.
5. Mundartliche Ausdrücke werden vereinheitlicht nach: Julius Leithaeuser,
Barmer Wörterbuch, Elberfeld 1929.
6. Zusätze des Herausgebers werden in eckige Klammern gesetzt.

Der Brief befand sich zum Zeitpunkt der Vorbereitungen für die 3.Auflage im Besitz von Anna Palmer, der 1882 in Milwaukee geborenen Tochter von Hermann Enters und seinem letzten noch lebenden Kind. Marie Ströker hatte Beziehungen zur Familie Enters in den USA, vor allem zu Anna Palmer geb. Enters aufrecht erhalten, so dass der Brief nach seiner Veröffentlichung 1970 zusammen mit dem daraus entstandenen Buch dorthin zurückgekehrt war. Als Frau Palmer ihren Hausstand auflöste und in ein Altersheim zog – sie starb dort 99jährig im Jahre 1981 – übergab sie das Manuskript der Nichte Erna Eells, Tochter ihrer Schwester Auguste. Für die nach den neuen Richtlinien überarbeitete 3. Auflage 1979 wurde eine gut lesbare Kopie herangezogen. Eine unveränderte 4. Auflage folgte 1985. Sie war 1998 vergriffen. Christel Kottmann (Sutton Coldfields, West Midlands, England), eine Verwandte von Hermanns Frau Auguste, hatte inzwischen den größten Teil des gedruckten Textes ins Englische übersetzt. Ihre Übersetzung wurde unter den Verwandten in Amerika, die nicht Deutsch sprachen, verbreitet.

Neue Lebenserinnerungen von Hermann Enters

Im Besitz der Nachkommen von Hermann Enters‘ Tochter Meta Doyle tauchte später ein weiteres Manuskript in deutscher Handschrift aus der Feder des Barmer Auswanderers auf. Es wurde dem Verfasser dieser Zeilen 1996 bekannt. Enters hatte später, offenbar nach dem Tode seiner Frau, Freude an einer ausführlicheren Niederschrift seiner Lebensgeschichte gefunden. Sie erlaubte ihm ebenso wie im Brief von 1922, sich mit mancherlei Begebenheiten, besonders mit erlittenem Unrecht auseinanderzusetzen, um es sich gleichermaßen „von der Seele“ zu schreiben. Er wiederholt und variiert viele der im Brief festgehaltenen Erinnerungen, geht auf manches ausführlicher ein, stellt einiges um oder lässt es aus. Breiteren Raum als im Brief widmet er seiner Rekrutenzeit, den Kriegserfahrungen in Frankreich 1870/71 und Erlebnissen aus den ersten Jahren in der neuen Heimat USA. Die Niederschrift bricht nach 161 Seiten unvermittelt ab.
Größere Teile übersetzte Christel Kottmann 1980/81 ins Englische. Der Urenkel William E. Enters (Verona, Wisconsin) machte sie, editorisch unterstützt von Jon Doyle, ebenfalls Urenkel, mit einem Kommentar über Entstehungsgeschichte und Inhalt der Familie zugänglich. Den Einführungsbeitrag „More on Hermann Enters“ schrieb die Enkelin Cloe Doyle. In Wuppertal wurden die neuen Erinnerungen 2001 vorgestellt.

Die Aufzeichnungen als historisches Dokument und Geschichtsquelle

Der nachstehend im Druck wiedergegebene Brief gehört wie das neu aufgefundene Manuskript zu den seltenen Dokumenten dieser Art, die uns aus Arbeiterhand überliefert sind. Beide Niederschriften stammen nicht von einem im Umgang mit dem geschriebenen Wort erfahrenen Autor, einem wortgewandten, akademisch gebildeten Kritiker und Analytiker seiner Zeit, sondern von einem jener „Eigentumslosen“ selbst, die an Feder und Tinte kaum gewöhnt und in kritischer Selbstreflexion nicht geübt waren. Doch Hermann Enters hatte nachzudenken und sich auszudrücken gelernt, je älter er wurde. Die Lebensumstände änderten sich, und er gewann neue Vergleichsmöglichkeiten.
Ohne Ehrgeiz, seine Aufzeichnungen über den Kreis der Verwandten verbreitet und im Druck veröffentlicht zu sehen, fasste ein altgewordener Amerikaauswanderer seine Jugendgeschichte in einem Brief und anschließend in einem längeren Manuskript zusammen. Ein Mensch einfacher Schulbildung, dessen Arbeit auf billigste Existenzsicherung zielte, dessen Familie unter die „Brunen“ eingereiht wurde, dessen Leben vergangen schien, ehe es erblühte, und bald vergessen werden sollte, setzte damit seiner Volksschicht ein eindrucksvolles Denk-Mal. Hier kommt beispielhaft eine Stimme aus der unendlich großen Menge zu Wort, deren Leben nur selten so authentisch überliefert worden ist. Enters wird zum Sprecher der ungenannten und unbekannten Angehörigen aus den unteren Volksschichten.
Die sozialgeschichtliche Forschung bedarf der Biographie, namentlich der als Quelle unschätzbaren Autobiographie. Werner Conze hat darauf hingewiesen, dass die methodische Auswertung biographischen Materials die Konkretisierung und die Individualisierung des Typischen erlaube. „In jeder Biographie nicht nur der ‘Großen’ in der Geschichte, sondern gerade der kleinen, ‘unbekannten’ Menschen, wird Sozialgeschichte beispielhaft individuell oder gruppentypisch sichtbar“. Vereinzelt hatte es schon im 18. Jahrhundert Erinnerungen mit Erkenntniswert für die sozialen Verhältnisse gegeben. So spielt Johann Heinrich Jung-Stillings Lebensgeschichte, die zu den wichtigsten Selbstbiographien dieser Zeit überhaupt zählt, teilweise im Tal der Wupper und im Bergischen Land, also in Hermann Enters‘ Heimat.
Mit der beginnenden Industrialisierung treten Arbeiterleben, Soziale Frage und sozialistische Bewegung stärker in den Vordergrund. Gegenüber den verhältnismäßig zahlreichen Lebenserinnerungen von Politikern, Unternehmern und Akademikern bleiben autobiographische Zeugnisse „kleiner Leute“ im 19. Jahrhundert schmal an Zahl und gering an Umfang. Die meisten dieser Niederschriften wurden zudem von engagierten und an diesem Material interessierten Persönlichkeiten wie dem Pastor und Sozialdemokraten Paul Göhre und dem liberalen Politiker Friedrich Naumann, ebenfalls evangelischer Pfarrer, um die Wende zum 20. Jahrhundert angeregt und herausgebracht.
Auf die Schwierigkeiten beim Verstehen solcher Erinnerungen hat Wolfram Fischer aufmerksam gemacht. Manche ihrer Aussagen erschienen „von den oberen Ständen vorgeprägt“, andere überzeichneten eine „bestimmte Perspektive“. Eine eingehende Interpretation der vorliegenden Aufzeichnungen ist an dieser Stelle nicht möglich und auch nicht beabsichtigt. Sie bleibt einem kritischen Leser überlassen, der gewillt ist, sich „auf festem wissenschaftlichem Fundament“ weniger mit „Heimatkunde im alten Sinne“ als mit „Sozial- und Strukturgeschichte“ zu beschäftigen. In dieser Hinsicht ist der Brief für einen quellenbezogenen Geschichtsunterricht hervorragend geeignet. Er erweist auch seinen Wert für das Geschichtsstudium, verhilft nachdenklichen Zeitgenossen zu historischer Erkenntnis und vermittelt dem Geschichtsschreiber konkrete Einzelheiten des Lebensalltags.
Bei den Lesern aber weckt er Verständnis und Mitgefühl für die „Lage der arbeitenden Klasse“ in einer Zeit, in der für unendlich viele Menschen ebenso wenig von sozialen Errungenschaften wie von demokratischer Mitbestimmung, gerechtem Arbeitsentgelt, erträglichen Arbeitsumständen und menschenwürdigen Lebensbedingungen die Rede sein konnte.
Die Stadt Wuppertal hat 1990 einer kleinen Straße im Wohnbezirk von Hermann Enters seinen Namen gegeben. Der Vorschlag kam unter dem Eindruck der vorliegenden Lebenserinnerungen aus der Bezirksvertretung Barmen, wo sie aufmerksam gelesen worden waren. Dies lässt sich als willkommenes Zeichen einer Achtung und Anerkennung werten, die der ehemalige Unterbarmer und spätere Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika als Sprecher seiner Schicksalsgenossen in der Heimatstadt erworben hat.