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August Mittelsten Scheid

Die Bewohner Wuppertals werden in weiten Kreisen ein wenig hämisch die „Muckertaler“ genannt. Geht man dieser Bezeichnung nach, so findet man, daß sie ihren Ursprung in dem vielfältigen Geistesleben der Stadt Wuppertal hat, das die Bewohner dieses Tales nicht ohne eine gewissen Eigenwilligkeit, ja sogar manchmal Beschränktheit wirklich leben. Lebensbejahendes, dem praktischen Erfolg zugewandertes Christentum ist geistige Basis Wuppertals durch Jahrhunderte gewesen. Auf diesem geistigen Hintergrund brachte Wuppertal eine Anzahl von Persönlichkeiten hervor, die sich durch ihre praktische und soziale Betätigung auszeichneten. Im Bewußtsein dieser Menschen spielte meistens die göttliche Führung und das Gefühl der christlichen Verantwortung für die Mitmenschen eine besondere Rolle.

So war es auch bei August Mittelsten Scheid, der am 25. April 1871 in Wuppertal-Wichlinghausen geboren wurde als Sohn von Emil Mittelsten Scheid und Emilie, geb. Schniewiend, der älteren Tochter von Kommerzienrat Heinrich Ernst Schniewind, dem Begründer der Firma H. E. Schwiewind. Emil Mittelsten Scheid, Augusts Vater, war ein stiller, warmherziger, in sich gekehrter Mann, während seine Mutter von lebendigem, sprudelndem Wesen war, energisch und tatkräftig den Haushalt führte und die Kinder erzog. Die Familie Mittesten Scheid stammt von dem Hof am „Schee“, wenige Kilometer nordöstlich von Wuppertal. Sie kann dort bis zum Anfang des 14. Jahrhundert nachgewiesen werden. Um das Jahr 1765 wanderte Johann Peter Mittelsten Scheid nach Wichlinghausen und gründete dort eine Firma für Barmer Artikel, die aus heute noch besteht und unter dem Namen August Mittelsten Scheid & Söhne. Besonders starken Eindruck machte ihm sein Großvater, Carl August Mittelsten Scheid, der in dem schönen steinernen Patrizierhaus gegenüber Augusts Elternhaus in Wichlinghausen Am Diek wohnt. August besuchte die sogenannte Oberrealschule, die heutige Carl-Duisberg-Schule, vom Jahre 1877 bis 1886.

Eine Straßenbahn gab es damals noch nicht und man ging zu Fuß über die „Rheinische Bahn“, die damals von italienischen Arbeitern gebaut wurde. Zur „Gemarke“ führte nur eine Pferdebahn.

Da es in Wuppertal nicht üblich war, daß ein Fabrikantensohn an einer Universität studierte, wurde August zur Firma Colsmann & Seifert in Langenberg in die Obhut seines Onkels Emil Colsmann gegeben. Nach dieser Ausbildung war er kurz in England und sollte nach Amerika gehen zur weiteren Vervollkommnung seiner Ausbildung. Um die Zeit bestanden aber Differenzen zwischen den Gesellschaftern seiner väterlichen Firma, und sein Großvater Schniewind, der als Schiedsrichter berufen wurde, wünschte und bestimmte, daß – ehe man zur Liquidation schritte – August in die Firma käme und dort mitarbeitete. August berichtete oft, was ihm damals an den Ausführungen seines Großvaters besonders bedeutungsvoll gewesen sei. Er habe nämlich gesagt: „Es kommt nicht darauf an, daß der Mensch die ganze Welt gesehen habe und alle Sprache spricht, sondern es kommt darauf an, was im Menschen ist; denn nur das, was im Menschen drinsitzt, kommt heraus“. Und das zweite: „Richte Dich nach Deinem Gewissen und nicht nach Deinem Gefühl. Wenn Du das Gewissen sorgfältig prüfst, wird Dein Weg immer richtig sein“. Tatsächlich konnte durch seinen Einsatz die Liquidation der Firma vermieden werden, und – wie gesagt – sie besteht heute noch. 1899 heiratete er Mathilde Vorwerk, die Tochter von Carl Vorwerk, der 1883 gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Adolf die Firma Vorwerk & Co. Gegründet hat. Das Feld in der Barmer-Artikel-Industrie war August zu klein, so trat er 1904 auf Wunsch seines Schwiegervaters Carl Vorwerk, der inzwischen eine Schlaganfall erlitten und keinen Nachfolger hatte, in die Leitung der Firma Vorwerk & Co. In Wuppertal-Barmen ein. Hier stand er alleine als Lernender und gleichzeitig Verantwortlicher von einer umfangreichen und schwierigen Aufgabe. Es gelang ihm aber aus den hervorragenden technischen Anfängen die Firma wirtschaftlich und technisch weiter zu entwickeln. Neben der Herstellung von Teppichen und Möbelstoffen wurde 1907 eine Wollspinnerei dazu erworben, vollständig erneuert und als eigenen Spinnerei betrieben. 1919 wurden zwei Werke in Bayern käuflich übernommen, in denen Möbelstoffe hergestellt wurden. Hierdurch konnte das Produktionsprogramm der Firma Vorwerk & Co. Wertvoll erweitert und ergänzt werden.

August Mittelsten Scheid war sich von Anfang an der öffentlichen Verantwortung bewußt, die ein Unternehmer hat. So nahm er schon 1902 eine Wahl in den Vorstand der Bergischen Arbeitgeberverbände an und war seit 1907 Mitglied der Industrie- und Handelskammer Wuppertal. 1914 gründete er – gemeinsam mit Kommerzienrat Hans Vogel in Chemnitz – den Verband der Möbelstoff-Fabrikanten und ein halbes Jahr später den der Teppichfabrikanten. Beide Verbände wurden später zusammen geschlossen und blieben 21 Jahre unter seiner Leitung. Weiter war er in den Spitzenverbänden der deutschen Industrie und schließlich im Präsidium des Reichsverbandes der deutschen Industrie tätig. Enge Mitarbeit mit den deutschen Banken, namentlich mit der Commerzbank, lag ihm am Herzen. Später war es vor allen Dingen die Mitarbeit in der Gothaer Lebensversicherung, die ihm auch in seinem hohen Alter noch Freude und Befriedigung gegeben hat.

Die Firma entwickelte sich weiter aufwärts, zumal nach dem ersten Weltkrieg die Maschinenfabrik mit den technischen Kenntnissen, die durch den Krieg hinzu erworben wurden, weiter auf dem Gebiet der Feinmechanik und des Getriebebaus ausgedehnt wurde. Die Firma wechselte 1926 auch über auf den Elektrogerätebau.

August Mittelsten Scheid leitete das Unternehmen bis zum Jahre 1936 in alleiniger Verantwortung. Es war aber sein Wunsch, daß zwei seiner Söhne ihm nachfolgen würden. Dies war für ihn eine Selbstverständlichkeit, da er sein Leben lang voller Stolz, aber auch die Verpflichtung einer Unternehmerfamilie den eigenen Mitarbeitern und der Öffentlichkeit gegenüber als Aufgabe gesehen hat.

So wurde er von 1932 bzw. 1934 an durch zwei seiner Söhne, Werner und Erich, entlastet. Dieses war ihm um s lieber, als er innerlich in Opposition zum nationalsozialistischem Regim stand. Er legte 1935 alle seine öffentlichen Ämter nieder und übertrug 1943, nachdem sein Wohnhaus und seine Firma im wesentlichen durch Bombenangriffe zerstört worden waren, die Leitung seinen beiden Söhnen. Er konnte noch zu seiner Freude erleben, daß dank der lebendigen Mitarbeit aller in der Firma Beschäftigten das Werk wieder aufgebaut und aktiv tätig wurde. Es ist bezeichnend, daß alle diese Dinge für ihn, obgleich er nicht eigentlich ein religiöser Mensch und sicherlich kein Kirchgänger war, göttlicher Fügung unterstanden.

Eine ganz starke Rolle in seinem Leben spielte seine Familie. Sie war für ihn Zentrum des Lebens, aus ihr schöpfte er seine Kraft, und für sie setzte er sich ein. Er fühlte sich gehalten durch besonders starke Bande an seine Mutter, seinen Großvater Carl August Mittesten Scheid und seinen Großvater H. E. Schniewind. Sein Leben wurde bestimmt von der Tradition der Familie, dem Stolz auf diese Tradition und dem starken Wunsch, dieser Tradition einen kräftigen Stein hinzuzufügen. Auch seinen Kindern vermittelte er die Liebe und Achtung für die Familie, zusammen mit dem Bewußtsein, daß seine Familie in ersten Linie eine Verpflichtung, nicht aber ein Vorrecht ist, daß die Verankerung eines Menschen in seiner Familie ein Kraftquell ist, der durch andere Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft nicht ersetzt werden kann. In seinem Hause war immer ein lebhafter, geistig reger, geselliger Verkehr, der sich jedoch materiell in bescheidenem Rahmen hielt, diese um so mehr, als seine Frau, Mathilde geb. Vorwerk, durchdrungen war von der Bedeutung der Schlichtheit. Nachdem beide 1943 ihr Wohnhaus in der Hohenstaufenstraße verloren hatten, zogen sie nach Wipperfürth in ihr Landhaus bei der Spinnerei und verlebten dort noch eine Reihe von glücklichen Jahren trotz aller äußeren Schwierigkeiten und Störungen.

Als August Mittelsten Scheid 1955 fast genau 6 Jahre nach seiner Frau starb, ging er in dem Bewußtsein von uns, ein volles Leben gelebt und seine Pflicht im Leben getan zu haben.

Dr. Erich Mittelsten Scheid, Wuppertal
„Wuppertaler Biographien“ Folge 4/1962 (Born-Verlag)